Leben und Werk von Wilhelm Martin Leberecht de Wette sind relativ gut erschlossen. Die äusseren Lebensdaten wurden nach dem Tode de Wettes in mehreren Publikationen dargestellt. [1] Insbesondere die Schrift Adelbert Wiegands, die zum hundertsten Geburtstag de Wettes erschien, macht dabei ausgiebig von den ihrem Verfasser zu jenem Zeitpunkt in grosser Zahl vorliegenden Briefen de Wettes Gebrauch. [2] Besondere Aufmerksamkeit fand die Wirksamkeit de Wettes in Basel, wo er sich sowohl um die Theologische Fakultät wie um die gesamte Universität grosse Verdienste erwarb. [3] Die theologische Bedeutung des Werkes de Wettes, seine Beziehung zu den theologischen Fragestellungen des 19. Jahrhunderts sowie die bleibende Bedeutung seiner Anfragen an Theologie und Gesellschaft werden bis in die Gegenwart hinein bearbeitet. [4]
Im Anhang der Biographie de Wettes von John W. Rogerson aus dem Jahre 1992 sind die zu jenem Zeitpunkt bekannten Briefe de Wettes aufgeführt. [5] Diese Liste basiert auf dem Verzeichnis des de Wette-Nachlasses in der Universitätsbibliothek Basel, das auch die Grundlage für die «Dewettiana – Forschungen und Texte zu Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Leben und Werk» des Basler Kirchenhistorikers Ernst Staehelin bildet. [6] Rogerson selber entdeckte seit seinen Forschungen im Zusammenhang mit der de Wette-Biographie zahlreiche weitere Autographen, so dass er im Sammelband des Basler de Wette-Symposiums von 1999 über zweihundert zusätzliche Briefe und einige andere Dokumente auflisten konnte; ein Teil dieser neuen Autographen wurde der Universitätsbibliothek Basel von Prof. Dr. Wilhelm Bleek (Bochum), einem Ururenkel de Wettes, geschenkt. [7] Diese publizierten Verzeichnisse erfassen jedoch nicht alle heute bekannten Autographen. Hinzu kommen Briefe, die in Strassburg entdeckt wurden [8], sowie solche, die bereits im Jahre 1963 publiziert wurden [9]. Gelegentlich gelangen einzelne Briefe de Wettes in den Kunst- und Antiquitätenhandel, zuletzt u.W. im Juni 2002. Ausserdem zeigt sich als Folge der zunehmenden Vernetzung, dass z.B. in den Bibliotheken und Archiven der ehemaligen DDR zahlreiche Autographen aufbewahrt werden, die Rogerson noch unbekannt sind.
Gegenwärtig sind rund 800 Briefe de Wettes als Autographen bekannt. Diese werden in über dreissig Archiven und Bibliotheken aufbewahrt oder befinden sich in Privatbesitz. [10]
Eine Reihe von Briefen de Wettes liegen, zumeist in Auszügen, gedruckt vor. de Wette selber gab im Jahre 1820 Briefe und Akten, die im Zusammenhang mit seiner Entlassung von der Universität Berlin standen, heraus. [11] Die erste ausführliche de Wette-Biographie von Adelbert Wiegand flicht in die Darstellung zumeist kurze Zitate aus zahlreichen Briefen ein; dem Verfasser lagen nach seinen Angaben 470 Briefe aus der Hinterlassenschaft de Wettes vor. [12] Einzelne Briefe de Wettes sind im Zusammenhang mit Biographien und Forschungen zu Persönlichkeiten bzw. Autobiographien von Persönlichkeiten, mit denen de Wette in brieflichem Kontakt stand, gedruckt worden, so die Briefe an F.D.E. Schleiermacher [13], J.F. Fries [14], H. Hupfeld [15], H.E.G. Paulus [16], J.G. Zimmer [17], F. Wilken [18], H. Schmidt [19], A. Twesten [20], G.A. Reimer [21] und E. Reuss [22]. Ein längerer Brief mit einem Lagebericht aus Rom, der vom Herausgeber des Kirchenblattes für die Reformierte Schweiz, K.R. Hagenbach, von de Wette erbeten wurde, ist dort abgedruckt. [23] Drei Briefe, die im Zusammenhang mit de Wettes Berufung an die St. Katharinenkirche in Braunschweig stehen, sind gedruckt in einer zeitgenössischen Dokumentation von K. Venturini. [24] Die neuste Biographie de Wettes von John W. Rogerson zitiert ebenfalls aus Briefen, darunter auch aus zahlreichen bisher unpublizierten. [25] Ausserdem hat Rogerson Auszüge von den seit Abschluss der Forschungen für die Biographie neu entdeckten Briefen de Wettes veröffentlicht. [26]
Eine erste systematische Sammlung und Publikation von Briefen de Wettes veranstaltete der Basler Kirchenhistoriker Ernst Staehelin in den «Dewettiana». [27] Damit verbunden war das Bemühen, die der Universitätsbibliothek eigene, relativ kleine Sammlung von Autographen de Wettes zu ergänzen um Kopien von Briefen anderer Bibliotheken und Archive. [28] Staehelin konnte auf diese Weise rund 270 weitere Briefe erfassen und erste Schritte zur Bildung eines de Wette-Zentrums in Basel unternehmen. Diese Kopien und/oder Mikrofilme, die in den 1950er Jahren hergestellt wurden, sind einigermassen gut erhalten, wenn sie auch heutigen Qualitätsansprüchen nicht zu genügen vermögen und insbesondere für eine wissenschaftliche Edition keine ausreichende Grundlage bilden. Insgesamt stellt jedoch die von Staehelin begonnene Sammlung bis heute den einzigen Versuch dar, die weit verstreuten Briefe an einem Ort zentral zusammenzuführen und der Forschung zur Verfügung zu stellen. [29]
Der Anteil der (grösstenteils in Auszügen) publizierten Briefe de Wettes beträgt rund ein Viertel, wobei knapp fünfzig Briefe ausschliesslich durch Drucke bekannt, jedoch nicht als Autographen erhalten bzw. bisher nicht entdeckt worden sind. [30] Der Wert dieser Publikationen für die wissenschaftliche Forschung wird jedoch dadurch stark gemindert, dass, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Briefe nicht gesamthaft abgedruckt und, zumal in den älteren Drucken, gar die Auslassungen nicht gekennzeichnet sind. Insbesondere die reichste Quelle, die erste Biographie de Wettes von Wiegand, ist als wissenschaftliche Quelle in dieser Hinsicht völlig unbrauchbar, da sie bei der Zitierung der Briefe zuweilen mehr als frei verfährt, um sie in den Kontext einzufügen, und auch vor Textänderungen nicht zurückschreckt. [31] Auch das ansonsten akribische und zuverlässige Werk Staehelins gibt die Briefe fast ausschliesslich in Auszügen wieder, ohne über den Umfang der Auslassungen und den Grund dafür zu informieren. Hinzu kommt, dass die älteren Drucke, die zu einem grossen Teil aus dem 19. Jahrhundert stammen, in keiner Bibliothek vollständig verfügbar und nur über Fernleihe aus verschidenen Bibliotheken des In- und Auslands zu beziehen sind. Zwar sind die Autographen heute in den Bibliotheken und Archiven meist problemlos zugänglich, auch jene, die in der damaligen DDR für Forscher aus dem Westen kaum erreichbar waren. [32] Dennoch stellt eine zuverlässige und möglichst vollständige Edition der Briefe sowohl für die de Wette-Forschung als auch für die Theologie- und Kirchengeschichte wie überhaupt für die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts zweifellos ein Desiderat dar.
Die Adressaten der Briefe de Wettes lassen sich in sechs Gruppen einteilen:
Von den an de Wette gerichteten Briefen sind deutlich weniger erhalten als von den Briefen de Wettes. Im Nachlass de Wettes in der Universitätsbibliothek Basel befindet sich eine Sammlung von Briefen an de Wette, die alle im Zusammenhang mit seiner Lutherbrief-Ausgabe von 1825-1828 stehen und insofern für das Leben und das theologische Werk de Wettes von eingeschränktem Interesse sind. Einzelne Briefe an de Wette werden in Briefeditionen anderer Persönlichkeiten gedruckt, so etwa die Briefe Schleiermachers in der Briefedition, die im Rahmen der Gesammelten Werke Schleiermachers erscheint. [33] Die rund achtzig bekannten Briefe an de Wette stellen einen relativ kleinen und nicht repräsentativen Ausschnitt dar, so dass auf die vollständige Publikation im Rahmen der de Wette-Briefedition verzichtet wird. Allerdings wird im Kommentar auf sie dort Bezug genommen, wo ihre Kenntnis für das Verständnis der Briefe de Wettes notwendig ist. Nach weiteren Briefen an de Wette wird ebenfalls systematisch geforscht. Sollte sich durch ergeben, dass eine signifikant grössere Anzahl von Briefen an de Wette erhalten ist, als es bisher den Anschein machte, würde das editorische Konzept in dieser Hinsicht überprüft.
Vor zwanzig Jahren beschrieb der inzwischen verstorbene Tübinger Kirchenhistoriker Joachim Mehlhausen ein Desiderat der Forschung, das weithin bis heute besteht: «Es fehlen weiterführende Quellenerschliessungen und vor allem wissenschaftliche Biographien führender Theologen und Kirchenmänner des vorigen Jahrhunderts.» [34] Durch die Edition der Briefe Wilhelm Martin Leberecht de Wettes soll eine solche Lücke geschlossen werden, indem diese erstmals vollständig erschlossen und der Forschung zugänglich gemacht werden. Gerade durch die zahlreichen sehr persönlichen Briefe, in denen de Wette Einblick in sein theologisches Denken und seine Entwicklung gibt, wird ein präziseres und differenzierteres Profil dieser theologisch und wissenschaftsgeschichtlich bedeutenden Persönlichkeit entstehen. Insbesondere kann deutlich werden, wie der Wandel der theologischen Konzeption, der sich äusserlich in de Wettes Publikationen sowie in seiner sich verändernden gesellschaftlichen Stellung in Basel manifestiert, lebensgeschichtlich verknüpft und durch äussere und innere Faktoren beeinflusst ist. Darüber hinaus geben die Briefe de Wettes Einblick in eine theologische Existenz des 19. Jahrhunderts, die geprägt ist von sehr unterschiedlichen und divergierenden Kräften: Grosse Umwälzungen in der theologischen Wissenschaft, an denen de Wette teilhat, ein spannungsvolles Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Kirche, aber auch ökonomische Gründe, die de Wette zu andauernder Publikationstätigkeit zwangen. Schliesslich bieten die Briefe de Wettes mit ihren Beschreibungen des Lebens in Heidelberg, Berlin und vor allem in Basel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie mit ihren hellsichtigen Analysen der politischen, wissenschaftlichen und kirchlichen Situation wertvolles Quellenmaterial für die Darstellung und Beurteilung dieser Zeit.
Es darf erwartet werden, dass von der Publikation neue Impulse für die Erforschung von Leben und Werk de Wettes ausgehen. Gleichzeitig wird die Erforschung der Kirchen- und Theologiegeschichte sowie der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts, das für die theologische Wissenschaft einen Epocheneinschnitt darstellt, befruchtet. Insbesondere für de Wettes 27-jährige ausserordentlich ertragreiche sowie wissenschaftsgeschichtlich und wissenschaftspolitisch bedeutende Tätigkeit an der Universität Basel (1822–1849) wird neues Quellenmaterial bereitgestellt. Durch die zentrale Bearbeitung und multimediale Publikation der Briefe de Wettes soll die in den 1950er Jahren begonnene Etablierung eines de Wette-Zentrums in neuer und zeitgemässer Form verwirklicht werden.
Zur Auflösung der abgekürzt zitierten Literatur s. → Literatur
[1] Hagenbach (1849); Schenkel (1849); Hagenbach (1850); Lücke (1850); Thöllden (1851); de Wette (1869); Wiegand (1879); Stähelin (1880). ↑
[2] Wiegand (1879) spricht im Vorwort von siebzig Briefen der Familie Reimer in Berlin sowie 400 Briefen aus dem Besitz der Tochter de Wettes, Anna Heitz-de Wette. ↑
[3] Hagenbach (1860); Vischer (1910); Thommen (1910); Jenny (1941); His (1941); Staehelin (1959); Bonjour (1971). ↑
[4] Neben den in Anm. 1 und 2 genannten Werken s. v.a. Mathys-Seybold (2001); Smend (2001); Howard (2000); Kuhn (1997); Willi (1997); Ohst (1995); Rohls (1990); Smend (1989); Kraus (1988); Reicke (1983); Barth (1981); Smend (1978); Smend (1958a); Smend (1958b); Handschin (1958). ↑
[5] Rogerson (1992), 288–298. ↑
[6] Staehelin (1956), 9f. Anm. 3. ↑
[7] Rogerson (2001); über die Umstände der Entdeckung gibt Rogerson ebd. 30f. Auskunft. ↑
[10] Die letzten Angaben zu den Besitzern stammen aus dem Nachlassverzeichnis in der Universitätsbibliothek Basel bzw. aus Staehelin (1956) und sind damit ein halbes Jahrhundert alt. Die aktuellen Besitzverhältnisse müssen demzufolge im Rahmen der Editionsarbeit geklärt werden. ↑
[11] de Wette (1820). Der Trostbrief an die Mutter des Kotzebue-Mörders Sand liegt neben dieser von de Wette selbst reproduzierten und gedruckten Fassung noch in einer Abschrift aus der Hand von Louise Voss geb. Engler vor, der sich im Boie-Voss-Nachlass der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel befindet. Die Berliner Zeit de Wettes und die Umstände seiner Entlassung sind ausführlich dokumentiert bei Lenz (1910a); Briefe finden sich bei Lenz (1910b). Zur Entlassung de Wettes aus Berlin vgl. ausserdem Lenz (1907). Die zeitgenössische Auseinandersetzung mit de Wettes Brief an Frau Sand ist dokumentiert in: Anon. (1820); Wigand (1822). ↑
[12] Wiegand (1879), Vorwort. Die über siebzig Briefe de Wettes an die Berliner Buchhändler Georg Andreas und Georg Ernst Reimer, die Wiegand vorlagen (ebd.) und von Staehelin (1956), 10 Anm. 3, als unauffindbar bezeichnet wurden, sind in der Zwischenzeit zusammen mit zahlreichen weiteren Briefen an dieselben Empfänger im Archiv des Verlags Walter de Gruyter in Berlin aufgefunden worden (Rogerson [2001], 40f.; vgl. auch Plümacher [1987]). ↑
[13] Dilthey (1863): acht mehrheitlich vollständige Briefe. ↑
[14] Henke (1867): Dreissig mehrheitlich vollständige Briefe; Henke (1868): zehn mehrheitlich vollständige Briefe, sechs davon identisch mit der vorstehenden Publikation. ↑
[15] Hupfeld (1963): elf vollständige und kommentierte Briefe. ↑
[16] Paulus (1839): ein vollständiger Brief; von Reichlin-Meldegg (1853): Aussschnitt aus einem Brief. ↑
[17] Zimmer (1888): sechs zumeist vollständige Briefe. ↑
[18] Stoll (1896): Ausschnitte aus zwei Briefen. ↑
[19] Schmidt (1856): ein vollständiger Brief. ↑
[20] Heinrici (1889): längeres Zitat aus einem Brief. ↑
[21] Plümacher (1987): fünf vollständige und kommentierte Briefe. ↑
[22] Vincent (1997): fünf vollständige und kommentierte Briefe. ↑
[24] Venturini (1822): drei wahrscheinlich unvollständige Briefe. ↑
[26] Rogerson (2001): Auszüge aus sieben Briefen. ↑
[28] Ebd., 9f. Anm. 3. Weitere Kopien von neuentdeckten Briefen wurden der Universitätsbibliothek Basel im Februar 2000 von Prof. J.W. Rogerson (Sheffield) geschenkt. Sie befinden sich ebenfalls im Nachlass de Wettes. ↑
[29] Rogerson (1992), 288: «they ... constitute the only collection of de Wette letters from many different sources, and thus the only resource for sustained research». ↑
[30] In diesem Wert sind jene bei Wiegand (1879) in Bruchstücken zitierten Briefe nicht eingeschlossen, die nicht aus anderen Quellen ebenfalles bekannt oder als Autographen erhalten sind (vgl. Staehelin [1956], 10 Anm. 8). ↑
[31] Zur Problematik der Biographie Wiegands als wissenschaftliche Quelle s. Rogerson (1992), 10, sowie das Beispiel eines verfälschten Zitats aus einem Werk de Wettes, ebd., 23. Ein weiteres Beispiel für einen Brief, den Wiegand vollständig verändert wiedergibt, findet sich bei Staehelin (1956), 95 Anm. 112. ↑
[32] Noch Rogerson konnte im Zuge seiner Forschungen für die de Wette-Biographie die von Staehelin (Nachlassverzeichnis) in Jena, Dresden, Ostberlin, Weimar, Halle und Leipzig nachgewiesenen Autographen nicht im Original einsehen (briefliche Mitteilung vom 12. März 2002 an B. Huwyler). ↑
[33] Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Hans-Joachim Birkner u.a., Berlin 1980ff. Die fünfte Abteilung enthält den Briefwechsel sowie biographische Dokumente. Der Briefwechsel wird in chronologischer Folge publiziert und steht gegenwärtig im Jahre 1802 (KGA V.5, Berlin 1999). ↑
[34] Joachim Mehlhausen, Kirchengeschichte: Zweiter Teil, in: Georg Strecker (Hrsg.), Theologie im 20. Jahrhundert. Stand und Aufgaben (Uni-Taschenbücher 1238), Tübingen 1983, 277. ↑